Schwerter zu Pflugscharen Der Schmied von Wittenberg

 Stand: 24. September 2020, 05:00 Uhr

 Das Bild des Schmiedes Stefan Nau, der in aller Öffentlichkeit ein Schwert umschmiedete, ging 1983 um die Welt. Für Nau hatte die Aktion drastische Folgen ...

Es ist am 24. September 1983, als der Kunstschmied Stefan Nau auf dem Wittenberger Lutherhof vor mehr als 2.000 enthusiastischen Zuschauern ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet. Das Bild, das den damals 38-Jährigen während der Schmiedeaktion zeigt, geht später um die Welt. Es wird zu einem Symbol der Friedensbewegung in Ost und West. Doch um Naus persönlichen Frieden ist es geschehen. Er muss für die spektakuläre Aktion einen hohen Preis zahlen.

Friedensaktion in der DDR "illegal"

Stefan Nau ist selbständiger Handwerker und betreibt in Wittenberg eine kleine Schmiedewerkstatt. In den Monaten nach der illegalen Aktion auf dem Lutherhof werden die Aufträge immer weniger und schließlich gibt es gar keine mehr. Nau steht vor dem wirtschaftlichen Ruin. Er vermutet, dass die Staatssicherheit dabei ihre Finger im Spiel hat. Und tatsächlich ist das ziemlich wahrscheinlich, auch wenn Nau keine Beweise dafür hat.

In der DDR hat Nau keine Perspektive mehr

In dieser für ihn ausweglosen Situation entschließt sich Stefan Nau, einen Ausreiseantrag zu stellen. Er will mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in die Bundesrepublik übersiedeln und einen neuen Anfang wagen. In der DDR sieht er keine Perspektive mehr. "Aber damit fing das Spießrutenlaufen erst richtig an", erinnert sich der Kunsthandwerker. "Ich stand jetzt zwischen der Staatssicherheit und der Friedensbewegung."

Aus dem Friedenskreis ausgeschlossen

Die "Abteilung Inneres" beim Rat des Kreises nimmt seinen Antrag entgegen und vertröstet ihn – es könnten Jahre bis zur Ausreisebewilligung vergehen. Nau muss seine Schmiedewerkstatt schließen und wird Anlagenfahrer im Chemiekombinat Piesteritz. Aus dem Wittenberger Friedenskreis schließt man ihn aus. Sein Wunsch fortzugehen wird dort als Verrat empfunden. "Friedrich Schorlemmer versuchte mich immer wieder zu überzeugen, in der DDR zu bleiben und meinen Antrag zurückzuziehen. Aber ich wollte nicht mehr." Nau wird unterstellt, dass er die Schmiedeaktion einzig mit der Absicht durchgeführt habe, um seine immer schon geplante Ausreise aus der DDR voranzutreiben.

Übersiedlung in den Westen

Im Oktober 1985 darf Stefan Nau die DDR verlassen. Er siedelt sich mit seiner Familie zunächst im schwäbischen Nagold an, heute lebt er in einer Kleinstadt in Hessen. In den ersten Jahren nach seiner Übersiedlung konnte er noch als Kunstschmied arbeiten, dann war es damit vorbei - die Arbeit brachte nicht mehr genug ein. Seither ist er als Anlagenbauer beschäftigt. Geschmiedet hat er schon ewig nichts mehr.
Die Aktion von 1983 ist für den "Schmied von Wittenberg" eine "schöne und berührende Erinnerung". Vor ein paar Jahren war er noch einmal in Wittenberg. Auf der Straße traf er zufällig auch einstige Mitstreiter aus der Friedensbewegung. "Aber außer 'Guten Tag' und 'Auf Wiedersehen' war da nichts", sagt Nau. Und auch die Distanz zu Friedrich Schorlemmer ist geblieben: "Wir haben uns nichts mehr zu sagen."

Deutsch-Deutscher Menschenhandel                                                                            DW, 08.08.2012

 

Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Die Bundesrepublik kaufte Tausende politische Häftlinge aus der DDR frei. Für den Westen waren humanitäre Motive entscheidend, für den Osten ökonomische.

Der Deal war politisch hochbrisant, Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich musste ihm zustimmen. Unter absoluter Geheimhaltung wurden am 2. Oktober 1963 die ersten acht DDR-Häftlinge in die Freiheit entlassen. In einem Bus überquerten sie den innerdeutschen Grenzkontrollpunkt Wartha-Herleshausen. Das kommunistische Regime kassierte exakt 205.000 D-Mark für die menschliche Fracht, der viele hundert folgten. Diesem Kapitel der deutschen Teilung ist jetzt erstmals eine monothematische Ausstellung gewidmet. "Freigekauft – Wege aus der DDR-Haft" ist bis Ende März 2013 in der Berliner Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde zu sehen.

Geschildert werden sechs Schicksale von Einzelpersonen und Familien, die aus politischen Gründen eingesperrt wurden. Darunter die Familie Kolbe aus Dresden, die im Oktober 1973 über den Umweg Tschechoslowakei nach Österreich in die Freiheit gelangen wollte. Der Versuch scheiterte, die Eltern landeten im Zuchthaus. Im Mai 1975 wurden sie freigekauft, mussten aber noch vier Monate warten, bis sie im Westen ihre beiden Söhne wieder in die Arme schließen konnten. Wie sie die Zeit zwischen Hoffen und Bangen überstanden haben, können die Besucher der Ausstellung anhand von Video-Interviews erfahren.

Die Öffentlichkeit auf beiden Seiten der Grenze sollte nichts über den staatlichen Menschenhandel erfahren. Deswegen wurden die freigekauften Häftlinge zur Verschwiegenheit verpflichtet. Natürlich gab es immer wieder Gerüchte, aber keine offiziellen Bestätigungen. Hinter den Kulissen zogen die Rechtsanwälte Wolfgang Vogel (Ost) und Jürgen Stange (West) die Fäden. Ihre jahrelange Korrespondenz ist in der Erinnerungsstätte Aufnahmelager Marienfelde auszugsweise dokumentiert. Man kann die Texte lesen, sie wurden aber auch professionell eingesprochen und können angehört werden.

Die Wortwahl ist nüchtern, wie in Geschäftsbriefen üblich. Beklemmend wirken sie deshalb, weil sich hinter den Zeilen menschliche Schicksale verbergen. "Die übergebene Liste befindet sich im Stadium der Überprüfung. Zahlenmäßig ist eine Festlegung noch nicht möglich", schreibt Vogel am 20. August 1973 an seinen Kollegen Stange. Sätze wie diese bedeuteten nichts anderes, als dass über DDR-Häftlinge gefeilscht wurde. Dabei spielten Kriterien wie Familienverhältnisse, Gesundheitszustand und Beruf eine wichtige Rolle, erläutert die Leiterin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Bettina Effner. "Ärzte und Ingenieure waren wertvoller", bringt sie die kalte Logik des DDR-Regimes auf den Punkt.

(Dr. med.) Renate Werwigk landete zweimal im Knast

Für inhaftierte Fachkräfte, die in der DDR dringend gebraucht wurden, war es also meistens schwieriger, auf die Liste zu gelangen. Diese Erfahrung machte auch die aus der Nähe von Berlin stammende Ärztin Renate Werwigk. Sie wollte 1963 ihrem schon vorher geflüchteten Bruder durch einen von Fluchthelfern gegrabenen Tunnel in den Westen folgen. Der Staatssicherheitsdienst (Stasi) bekam Wind von der Sache. Renate Werwigk und ihre Eltern wurden zu teilweise mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.

Nach ihrer Entlassung nahm die junge Frau Kontakt zu Anwalt Vogel auf. Der habe ihr zunächst keine Hoffnung auf eine Ausreise in den Westen gemacht, erzählt Renate Werwigk im Gespräch mit der Deutschen Welle. Schließlich habe Vogel durchblicken lassen, dass sie es auf eine erneute Verhaftung ankommen lassen solle. Nachdem der Versuch scheiterte, mit einem gefälschten Pass von Bulgarien in die Türkei zu reisen, wurde die Ärztin 1967 ein weiteres Mal zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Ein Jahr später wurde sie im Austausch gegen einen DDR-Spion und 100.000 D-Mark in den Westen abgeschoben.

Um auch nur den Anschein des staatlichen Menschenhandels zu vermeiden, beauftragte die Bundesregierung das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche mit der finanziellen Abwicklung des Freikaufs von DDR-Häftlingen. Diese Tarnung bot sich an, weil die westdeutsche Kirche schon seit 1957 Gemeinden in Ost-Berlin materiell unterstützte. Auf politischer Ebene war im Westen das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen zuständig, das ab 1969 Ministerium für Innerdeutsche Angelegenheiten hieß. Große Verdienste um den Freikauf von politischen Häftlingen machte sich von Anfang an der Jurist Ludwig Rehlinger. Über seine Erfahrungen als Unterhändler berichtet der gebürtige Berliner in einem ausführlichen Video-Interview, das in der Ausstellung gezeigt wird.

Bis zum Mauerfall 1989 landeten rund 87.000 DDR-Bürger hinter Gittern, weil sie flüchten wollten oder in den Augen der Ost-Berliner Machthaber aus anderen Gründen als politisch "unzuverlässig" galten. Knapp 34.000 dieser "Feinde des Sozialismus", die sie nach DDR-Lesart waren, kaufte der Westen frei. Nur die erste Busladung 1963 wurde bar bezahlt, danach wurde es ein Tauschgeschäft: Menschen gegen Waren. Je nachdem, was in der chronischen DDR-Mangelwirtschaft gerade fehlte, lieferte die Bundesrepublik Lebensmittel oder Erdöl. Aber auch Diamanten wanderten von West nach Ost.

Man könne das Freikaufen von Häftlingen als eine "Art der Devisenbeschaffung" bezeichnen, meint Ausstellungskuratorin Lucia Halder zutreffend. Waren im Wert von mehr als drei Milliarden Mark landeten so in der maroden DDR. Das war der Preis für die Freiheit von Ostdeutschen, deren erste Anlaufstelle im Westen die "Bundesaufnahmestelle" im hessischen Gießen war. Deren Leiter war Heinz Dörr. Die Neuankömmlinge aus dem anderen Teil Deutschlands begrüßte er mit den Worten: "Meine Damen und Herren, Sie sind jetzt Bundesbürger."


 Häftlingsdeals mit der DDR - Menschen gegen Maisladungen

40.000 D-Mark für die Freiheit: Von 1963 bis 1989 verkaufte das SED-Regime fast 34.000 politische Gefangene an die Bundesregierung. Erst gegen Geld, später gegen Güter. Mitinitiator Ludwig A. Rehlinger erinnert sich an die geheimen Deals - und verrät, warum er die Geretteten nicht treffen wollte. Von Katja Iken , 24.10.2011

 

Gerade kürzlich, da holten ihn die Emotionen wieder ein. Obwohl sich Ludwig A. Rehlinger ein Leben lang davor zu schützen versucht hatte. "Ich fuhr mit dem Rad hier draußen durch den Brandenburger Wald", sagt der Mann mit dem weißen Haar und zeigt aus dem Fenster seines eingeschossigen Rotklinkerhäuschens. Plötzlich rief ihm ein Ehepaar hinterher. Rehlinger stieg ab und stand vor einem älteren Herrn. "Der drückte mich so fest an die Brust, dass mir schier die Luft wegblieb", erinnert sich der 84-Jährige und lächelt. Dann habe er gesagt: "Herr Rehlinger, Sie haben mir das Leben gerettet!"

Der ältere Herr war Harry Seidel, ein ehemaliger DDR-Radrenn-Profi. Kurz nach dem Mauerbau 1961 war der ehemalige Vorzeigesportler in den Westen geflohen, im Jahr darauf erwischte ihn die Staatssicherheit beim Versuch, ehemalige Mitbürger durch einen Tunnel in die Freiheit zu schleusen. Seidel bekam lebenslänglich - und Rehlinger holte ihn 1966 aus dem DDR-Gefängnis raus. Gegen Schiffsladungen mit Mais.

"Freikauf" lautet der Terminus für eines der geheimsten und bis heute umstrittensten aller deutsch-deutschen Geschäfte. Ausgerechnet an den Klassenfeind im Westen verkaufte die DDR ab 1963 ihre politischen Häftlinge. Wie Schachfiguren wurden die Menschen von der einen auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs verschoben. Rehlinger, Justizsenator a.D. und einstiger Behördenchef, gehört zu den Begründern des historischen Deals.

"Ohne Zögern und Zaudern" gegen das Unrecht

Der Jurist mit dem wachen Blick, dessen Erinnerungen an die geheimen Deals jetzt als Buch beim Mitteldeutschen Verlag neu aufgelegt wurden, ist der letzte noch lebende Zeitzeuge, der den Freikauf von bundesdeutscher Seite aus mit eingefädelt hat. Wobei Rehlinger das Wort "Freikauf" nicht besonders gern mag. Lieber spricht er von den "besonderen humanitären Bemühungen der Bundesrepublik". Das ist neutraler, nicht so gefühlig. Und einen kühlen Kopf, den musste Rehlinger bewahren als diskreter westdeutscher Unterhändler in einer so heiklen Mission wie dem Tausch von Menschen gegen Güter.

Angetrieben von dem Wunsch, eine lukrative Geldquelle zu erschließen und gleichzeitig das eigene, ziemlich ramponierte Ansehen auf dem internationalen Polit-Parkett aufzupolieren, bot die DDR der BRD im Jahr 1962 erstmals an, politische Häftlinge zu verkaufen. Jürgen Stange, ein West-Berliner Rechtsanwalt, der als Inhaber eines bundesdeutschen Ausweises in beiden Teilen der Stadt ein- und ausging und einen engen Kontakt zu Ost-Berliner Anwälten pflegte, übermittelte diese brisante Nachricht an den Westen.

"Ich war sofort begeistert", sagt Rehlinger, und beugt sich in seinem blassblauen, von Bücherstapeln und Tageszeitungen umgebenen Sessel vor. Als persönlicher Referent des Ministers für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, nahm Rehlinger die geheimen Verhandlungen mit der DDR-Seite auf. Motiviert hat ihn dabei das Bedürfnis, "ohne Zögern und Zaudern", wie er sagt, "gegen das Unrecht anzukämpfen". Denn das Unrecht, das hat Rehlinger am eigenen Leib erfahren.

Grauenvolles Schicksalsspiel

Als Teenager bekam er von den Nationalsozialisten einen Stahlhelm auf den Kopf gesetzt und wurde an die Kanone gestellt. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, als er an der Berliner Humboldt-Universität Jura studierte, erlebte Rehlinger eine neue Variante staatlicher Willkür: Kommilitonen, die sich politisch nicht im Sinn der gerade gegründeten SED engagiert hatten, verschwanden spurlos, wurden festgenommen, weggesperrt.

"Wir hatten die moralische Pflicht, diesen Menschen zu helfen", sagt Rehlinger. Im Verlauf der geheimen Verhandlungen, die er mit der DDR-Seite führte, oblag ihm eine besonders schwierige Aufgabe: Rehlinger musste entscheiden, welche der eingesperrten Häftlinge freikommen sollten. "Ein qualvoller Prozess", sagt er. Wochenlang studierte Rehlinger die Akten der damals rund 12.000 in Ost-Gefängnissen einsitzenden DDR-Bürger, immer wieder strich er die Liste zusammen, spielte Schicksal - versuchte, gerecht zu sein, ohne allen gerecht werden zu können.

"Hinter jeder Akte steckte ein Mensch, grauenvoll war das", sagt Rehlinger und klammert sich an die Papiere, die auf seinem Schoß liegen. Nachdem die DDR den Westen beim ersten Deal zunächst mit 1000 Häftlingen geködert hatte, reduzierte sie ihr Angebot sukzessive: zunächst auf 500, dann auf 100, dann auf zehn. Bis schließlich nur noch acht übrigblieben.

320.000 D-Mark in braunem Packpapier

Blieb die unangenehme Frage der Gegenleistung für diese acht Menschen: Wie viel war die Bundesregierung bereit, für jeden politischen Häftling zu zahlen - wie bemisst sich der Wert eines Menschen? Auch diese Verhandlungen führte Rehlinger als BRD-Unterhändler mit der DDR- Seite, zumeist mit dem Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel. "Ich versuchte natürlich, so niedrig wie möglich reinzugehen", erinnert er sich. Am Ende eines zähen Ringens habe man sich auf 40.000 D-Mark pro Häftling geeinigt. Macht für acht Häftlinge 320.000 D-Mark - zu übergeben in bar.

Was 1963, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, nicht gerade einfach war: Bundesregierung und DDR unterhielten damals keinerlei offiziellen Beziehungen, ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein offizieller Gesandter Bonns einfach so mit Bargeld in der Tasche über die Grenze marschierte. Damit der Freikauf nicht aufflog, weder Zöllner noch Medien Wind von dem hochgeheimen Geschäft bekamen, fuhr Rehlinger mit Anwalt Jürgen Stange zum Lehrter Stadtbahnhof.

Dort setzte er Stange mitsamt dem Geld in die S-Bahn, die direkt über die Sektorengrenze nach Ost-Berlin fuhr. "So trickste ich die Grenzkontrollen aus und konnte gleichzeitig sichergehen, dass das Geld zuverlässig in der DDR landet", sagt Rehlinger.

"Dass einer noch an mich gedacht hat"

Im Herbst 1963 kamen die ersten acht Häftlinge frei. Zu den DDR-Bürgern, die von Rechtsanwalt Jürgen Stange einzeln in Ost-Berlin abgeholt und per S-Bahn in die westliche Freiheit geleitet wurden, gehört auch Kurt Schulz: ein Tischler, der nach dem Zweiten Weltkrieg vom sowjetischen Militärtribunal ohne ersichtlichen Grund zunächst zum Tode und dann zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Schulz hatte in der DDR bereits mehr als zehn Jahre im Gefängnis gesessen.

Als er im Anwaltsbüro in Berlin-Charlottenburg angekommen war, erlitt Schulz einen Schock. "Dass einer an mich gedacht hat", sagte er und glitt bewusstlos vom Stuhl. Unterhändler Rehlinger war nicht zugegen - absichtlich nicht. Weil er Angst hatte vor zu vielen Emotionen. "Als meine Mitarbeiter mich anriefen und mir von Schulz' Zusammenbruch erzählten, erlitt ich einen Heulkrampf, das muss ich zugeben", sagt Rehlinger sichtlich bewegt.

Doch schnell kontrolliert er sich wieder und erzählt, wie aus der zunächst einmaligen Freikaufsaktion von 1963 eine dauerhafte Institution wurde: Ein Jahr, nachdem Tischler Schulz und die anderen sieben Häftlinge freigekommen waren, erneuerte die DDR ihr Angebot, politische Häftlinge gegen Geld in den Westen zu entlassen. Die Verantwortlichen in der BRD willigten ein, und so legte Rehlinger ein weiteres Mal eine Häftlings-Wunschliste vor, handelte den Preis aus, organisierte das Procedere. Jahr für Jahr wiederholte sich das Ritual und entließ die DDR einen Teil ihrer politischen Häftlinge in den Westen - bis zur Wende sollten daraus 33.755 Menschen werden.

Wunderbus mit doppelten Nummernschildern

Mit Bussen, die im Osten bald den Beinamen Wunderbus erhielten, wurden die freigekauften Häftlinge an die Grenze gebracht und hier, auf unauffälligen Parkplätzen oder Waldlichtungen, an den Westen übergeben, bevor sie ins Aufnahmelager Gießen gelangten. Später holte die Bundesregierung die Menschen direkt in der Haftanstalt Karl-Marx-Stadt ab.

Um im Osten nicht aufzufallen, verfiel der hessische Busunternehmer Arthur Reichert auf die Idee der doppelten Nummernschilder, wie sich Rehlinger erinnert: Sobald der Bus die Grenze passiert hatte, drehte der Fahrer per Knopf am Armaturenbrett die Nummernschilder: Aus dem Westkennzeichen HU-X 3 wurde das DDR-Nummernschild IA-48-32 - auf dem Rückweg klappte wieder das BRD-Kennzeichen runter.

Mitgefahren in einem der Wunderbusse ist Rehlinger nicht ein einziges Mal: Der Behördenchef untersagte sich persönliche Begegnungen mit den Gefangenen, die er freikaufte. "Ich wollte mich da emotional so weit wie möglich raushalten", sagt Rehlinger.

Waren auf dem Weltmarkt versilbert

Unmoralisch fand der Jurist ihn nie, den Kommerz mit den DDR-Häftlingen. "Wer verstieß denn gegen die Moral - der, der Menschen gegen Geld freiließ, oder der, der bezahlte, um politisch Verfolgten zu helfen?", fragt Rehlinger. Zumal die BRD nach 1963 keine Koffer mit Bargeld mehr in den Osten schleuste, sondern die Gegenleistung in Waren erbrachte, um den notorischen Mangel in der DDR zu lindern: Wurden die Häftlinge 1964 vor allem mit Südfrüchten bezahlt, waren es danach Güter wie Getreide, Erdöl, Industriediamanten, Kupfer.

"Wir wollten damit den Brüdern und Schwestern drüben etwas Gutes tun", sagt Rehlinger, der in den sechziger und achtziger Jahren bis hin zur Wende nicht nur den Freikauf organisierte, sondern auch zahlreiche Agentenaustausche zwischen Ost und West mit einfädelte. Doch die begehrten Waren kamen nur selten bei den DDR-Bürgern an. Stattdessen versilberte das Politbüro die von der BRD gutgeschriebenen Produkte auf dem Weltmarkt und füllte damit ihre notorisch klammen Konten auf.

Mehr als 3,4 Milliarden D-Mark pumpte Bonn auf diesem Weg in die Staatskassen des SED-Regimes. Laut dem ehemaligen Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski sollen sogar rund acht Milliarden D-Mark in den Osten geflossen sein. Die Bundesregierung, räumt Rehlinger ein, sei bald dahinter gekommen, dass die DDR-Führung die Einnahmen aus dem Häftlingsfreikauf nicht dem eigenen Volk zugute kommen ließ.

Glauben ins System untergraben

Dennoch habe jeder Kanzler, gleich welcher politischen Couleur, an dem Häftlingsfreikauf festgehalten - "aus humanitären Gründen", wie Rehlinger betont. Dass die BRD damit ein Unrechtsregime über Jahrzehnte hinweg stabilisierte, lässt er nicht gelten, im Gegenteil. Man habe die DDR finanziell zwar unterstützt, gesellschaftspolitisch jedoch von innen heraus zersetzt.

Denn das Bewusstsein um die Käuflichkeit der eigenen Regierung, das zum Top-Thema in den DDR-Gefängnissen avancierte und bald auch in der Öffentlichkeit bekannt wurde, habe in hohem Maße den Glauben ins System untergraben. "Der Häftlingsfreikauf war der Sargnagel der DDR", sagt Rehlinger und blickt aus dem Fenster.

Der 84-Jährige wirkt jetzt ein wenig erschöpft. Höflich hilft er der Journalistin in den Mantel und geleitet sie mit dem Auto durch die regennassen Straßen des Kleinstädtchens am Südzipfel Berlins bis zur S-Bahn-Station. Auf der Fahrt dorthin erzählt Rehlinger, wie er damals durch die Chefredaktionen der Bundesrepublik getingelt sei, um die verantwortlichen Journalisten davon zu überzeugen, dass eine Berichterstattung über den Freikauf die Geheimaktionen gefährden würde. Meist habe es geklappt.

"Das war eine andere Zeit", sagt der alte Mann. Dann winkt er und fährt vorsichtig davon.


Aktentasche mit 15.000 D-Mark: Wie die DDR ihre Häftlinge verkaufte - FOCUS online

 

Geld für die Ausreise von Menschen - auch das war Teil der deutsch-deutschen Geschichte. Mehr als 33.000 politische Häftlinge kaufte die BRD bis 1989 aus der DDR frei. Einer der ersten war Manfred Hildebrandt.

Mehr als drei Jahre sitzt Manfred Hildebrandt bereits im Gefängnis. Da wird er Anfang Oktober 1963 unerwartet aufgefordert, seine Sachen zu packen. Vom sächsischen Zuchthaus in Torgau geht es nach Berlin ins Stasi-Gefängnis Magdalenenstraße.

Noch im März 1960 wegen Spionage verurteilt, lernt Hildebrandt die Mitarbeiter der gefürchteten Staatssicherheit nun von einer ungewohnt zuvorkommenden Seite kennen. Statt einer kargen Zelle, bekommt er ein Zimmer mit richtigem Bett, Sessel, Nierentisch und Stehlampe.

Er wird freundlich gefragt, ob er etwas Warmes oder Kaltes zum Abendessen wünscht. Und auch ein Friseurbesuch steht plötzlich auf dem Programm. "Die Stasi war arg freundlich zu mir", erinnert sich der heute 76-Jährige. "Diese Höflichkeit war mir suspekt."

"Ich wusste gar nichts"

 Denn warum sich sein Haftalltag so schlagartig ändert, das sagt ihm niemand. "Ich wusste gar nichts", erzählt der Mann mit dem kurzen hellgrauen Haar. Gleichwohl habe er etwas geahnt, räumt er ein. Spätestens als ein Stasi-Offizier mit ihm neue Kleidung einkaufen geht und ihn auffordert, sein letztes Geld in zwei Flaschen Krimsekt zu investieren, wird die Ahnung allmählich zur Gewissheit.

 "Wer erwartet Sie denn heute Abend drüben?", fragt der Stasi-Offizier ihn während ihres Einkaufsspaziergangs unvermittelt. Es ist das erste Mal, dass der damals 25-Jährige einen Hinweis auf seine unmittelbar bevorstehende Ausreise aus der DDR erhält.

Was Hildebrandt nicht weiß: Er ist einer der allerersten von insgesamt 33.755 politischen Häftlingen, die Bonn zwischen 1963 und 1989 freikaufen wird. So schreibt es der Journalist Norbert F. Pötzl in seinem neuen Buch über den Ost-Berliner Rechtsanwalt und Unterhändler des SED-Regimes, Wolfgang Vogel. "Hildebrandt gehörte zu den ersten acht, die von Vogel freigekauft wurden", sagt Pötzl, der Vogel lange kannte und nach dessen Tod 2008 Zugang zu seinem Privatarchiv erhielt.

Aktentasche mit 15.000 D-Mark

Am 22. Oktober 1963 wird Hildebrandt seinem Anwalt übergeben, der ihn zum Bahnhof Friedrichstraße fährt. Vogel vertraut ihn seinem West-Berliner Kollegen Jürgen Stange an, mit dem Hildebrandt die Fahrt in die Freiheit antreten soll. Doch bevor es losgeht, habe Stange ihn gebeten, am Gleis auf ihn zu warten.

"Sie bleiben hier sitzen, ich muss noch etwas erledigen", habe der Anwalt zu ihm gesagt und sei verschwunden, erinnert sich Hildebrandt. Wie er später erfährt, holt der Anwalt noch eine mit Bargeld gefüllte Aktentasche und gibt sie den Stasi-Leuten. 15.000 D-Mark erhält die DDR damals für Hildebrandt, hat Pötzl in Stasi-Unterlagen recherchiert. Für andere Häftlinge wird deutlich mehr bezahlt. Später wird Bonn Waren statt Bargeld für die Häftlinge liefern.

Hildebrandt selbst wird aufgefordert, sich nicht öffentlich über seine Ausreise in den Westen zu äußern. Die neue Form der Annäherung soll nicht bekannt werden. Dabei hatte der junge Mann nie daran gedacht, der DDR den Rücken zu kehren. "Ich wollte meine Mutter und ihre Eltern nicht zurücklassen."

Eine Art "Agentenzentrale für die Stasi"

Doch als der Student der Dresdner Fachschule für Binnenhandel im Mai 1959 festgenommen und nicht nur sein Zimmer, sondern auch die Wohnung seiner Mutter durchsucht wird, entschließt diese sich während eines Aufenthalts in West-Berlin kurzerhand dortzubleiben. Sie sucht nach anwaltlichem Beistand für ihren Sohn und stößt bald auf Wolfgang Vogel, der sich des Falles annimmt.

Hildebrandt wird sein Kontakt zum Ost-Berliner Büro der SPD zur Last, für die Stasi eine Art "Agentenzentrale", wie er rückblickend sagt. Von dort besorgt sich der junge Mann Bücher und Zeitungen, an die er im Osten nicht kommt. "Ich wollte lesen, was mir gefällt, und mir nichts vorschreiben lassen", sagt er. Bewusst in Opposition gegen den Staat habe er damit aber nicht gehen wollen, sagt der 76-Jährige.

Nach seinem Austausch bleibt er in West-Berlin, wo er bis heute lebt. Er absolviert die Polizeischule und arbeitet bis zu seiner Pensionierung als Kriminalbeamter. Jüngere Menschen müssen sich seiner Meinung nach mit diesem Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte auseinandersetzen. Für Hildebrandt steht fest: "Die DDR war ein Unrechtsstaat."


 

Weizäcker geht auf Distanz:

 

Richard von Weizsäcker geht auf die Schmiedeaktion in seiner Rede auf dem Kirchentag nicht ein. Er betont die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und der Verminderung von Waffensystemen, zu pazifistischen Bestrebungen geht er aber auf Distanz. Und auch bundesdeutsche Medienvertreter erwähnen das Umschmieden des Schwertes in ihren Artikeln über den Besuch von Weizsäckers in Wittenberg mit keiner Silbe.

 

 

 


 Häftlingsaufstand in Bautzen - Endstation „Gelbes Elend“

Die Stadt Bautzen in Ostsachsen ist weithin bekannt – unter anderem wegen zweier Gefängnisse, die sich dort befinden. Heute vor 70 Jahren kam es in Bautzen zu einem Aufstand verzweifelter Gefangener – ein Tabuthema zu DDR-Zeiten.

Von Doris Liebermann | 31.03.2020

„Sie kamen gegen Morgen. Hastig sprangen drei Rotarmisten von ihrem erdbraungrün gefärbten Jeep und pochten an die Haustür. Ehe der neunzehnjährige Jochen aus seinen Träumen gerissen wurde, war das Haus umstellt, eine Flucht unmöglich.“

So schildert der Schauspieler Jochen Stern in seinem Buch „Und der Westen schweigt“ seine Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst im Oktober 1947. Stern war damals Neulehrer in Frankfurt an der Oder und im Vorjahr der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands beigetreten. Das war sein „Verbrechen“. Stern wurde in den Verhören gefoltert und von einem sowjetischen Militärtribunal (SMT) wegen „Zugehörigkeit zu einer Spionageorganisation“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er kam jedoch nicht in den Gulag, sondern auf Jahre in das sogenannte „Gelbe Elend“ von Bautzen.

„Bautzen hat zwei Gefängnisse in der Stadt, es gibt das große Gefängnis, Bautzen I, 1904 erbaut, das ist das, was landläufig als ‚Gelbes Elend‘ bezeichnet wurde. Es ist aus gelben Klinkersteinen errichtet worden und hat deshalb diesen farblichen Beinamen ‚gelb‘ bekommen und ‚Elend‘ durch die Haftbedingungen“, erläutert Sven Riesel, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.

„Die Häftlinge litten unter Hunger“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war das Gefängnis Bautzen I zum sowjetischen Speziallager für NS-Kriegsverbrecher umgewandelt worden. Ab 1946 wurden dort aber zunehmend politische Gegner inhaftiert: meist junge Menschen, die auf demokratische Strukturen gehofft und sich gegen eine Stalinisierung der sowjetischen Besatzungszone gewehrt hatten, oder Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung ihrer Partei mit der KPD zur SED widersetzten.

Bautzen I, für 1.100 Gefangene gebaut, war 1950 mit 6.000 Häftlingen hoffnungslos überbelegt.

„Die Häftlinge litten unter Hunger, unter der Abschottung nach außen, der Isolation. Sie waren zum Nichtstun verdammt, es gab keine Häftlingsarbeit, und dazu kam noch auch diese Überbelegung und die kursierenden Krankheiten.“

Hungerstreik der Gefangenen

Zwischen 1945 und 1950 starben allein im „Gelben Elend“ 3.000 Häftlinge, häufig an Tuberkulose. Als Anfang 1950 die DDR-Volkspolizei das Haftregime von den Sowjets übernahm, hofften die Gefangenen auf eine Verbesserung ihrer Lage. Vergeblich, sagt Jochen Stern:

„Unsere Fälle wurden nicht aufgearbeitet, denn wir waren ja alle unschuldig, wie wir dachten. Dass die Verpflegung sogar schlechter wurde, und der Hunger war ungeheuer gewaltig, so dass es jetzt im Januar/Februar einen unheimlichen Abstieg in jeder Beziehung gab, sowohl, was die physische Überlebensmöglichkeit bot, als auch die psychische.“

Am 13. März 1950 protestierten die Gefangenen mit einem Hungerstreik gegen die katastrophalen Haftbedingungen, am 31. März 1950 kam es zum ersten und größten Häftlingsaufstand der DDR.

„Die Russen haben dann mit Granatwerfern und MGs Stellung bezogen, weil sie dachten, wir brechen aus. Das bebt ja dann, der ganze Laden. Das war also eine prekäre Situation. Nur: Wir wollten ja gar nicht ausbrechen. Wir wussten ja, dass das für uns nicht gut ausgehen würde. Das war praktisch der Aufschrei: a) der Enttäuschung, b) des noch schlechteren Lebens innerhalb des Knasts.“

Nach dem Aufstand bekamen Gefangene Arbeit

Die Volkspolizei ging brutal gegen die Aufständischen vor, sagt Sven Riesel:

„Die Gefangenen wurden niedergeschlagen mit Gummiknüppeln, es wurden Hunde durch die Haftsäle gejagt, die die Gefangenen bedrohten und Häftlinge, die an den Fenstern zu sehen waren, die lauthals aus den Gittern, herausschrien, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen, wurden mit Hilfe einer Feuerwehrspritze von den Fenstern weggespritzt und auch zum Teil sehr schwer verletzt.“

Einige Verbesserungen zog der Aufstand nach sich: Ab Sommer 1950 durften die Gefangenen arbeiten, ihre Essensrationen wurden erhöht, und: sie durften ihren Angehörigen schreiben.

„Die Eltern haben geglaubt, wir sind in Sibirien, in Russland. Die haben überhaupt nicht gewusst, ob wir noch lebten, wo wir überhaupt waren.“

Freilassung nach Stalins Tod

Nach Stalins Tod 1953 begannen allmählich die Entlassungen, Jochen Stern kam 1954 frei. Auf Rehabilitierungsverfahren mussten die aus politischen Gründen Verurteilten allerdings noch Jahrzehnte warten: bis zum Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre.


Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf dem 21. Deutschen Evangelischen Kirchentag

Düsseldorf, 8. Juni 1985

Mein Thema lautet: Die Deutschen und ihre Identität.

Zwei Fragen sind damit zusammengefasst. Die eine heißt: Ich gehöre zu einem Volk, dem deutschen Volk. Welche Merkmale haben wir Deutschen als Volk? Was macht es aus, dazuzugehören? Was unterscheidet uns Deutsche von anderen Völkern?

Sodann aber – und das ist die zweite Frage – bin ich ein Mensch. Was hat die Tatsache, ein Deutscher zu sein, mit meiner eigenen Identität als Mensch zu tun? Viel oder wenig? Ist sie mir ziemlich gleichgültig? Fordert sie mich heraus? Prägt sie mein Bewusstsein? Stellt sie mich vor verantwortliche Aufgaben, gerade als Deutscher vor Aufgaben, die ich sonst nicht hätte? Wenn ja, vor welche?

Fallen die Antworten darauf unterschiedlich aus, je nachdem ob ich alt oder jung bin, ob ich evangelisch oder katholisch bin, ob ich in der DDR oder in der Bundesrepublik Deutschland lebe?

Vorsorglich möchte ich warnen: Es handelt sich um ein schwieriges Thema! Keine Antwort auf solche Fragen wird sich für eine Balkenüberschrift eignen.

Bitte machen Sie sich bei meinem Referat nicht auf Aussagen gefasst, die Sie zu stürmischem Widerspruch oder Zuspruch reizen. Es gibt keine einfachen, keine allgemein verbindlichen und keine unveränderliche Antworten.

Identität – das ist zunächst die Frage danach, wie man sich selbst versteht. Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Jeder hat seine eigenen Erlebnisse und Schwerpunkte. Davor gilt es, Respekt zu haben und sich gegenseitig nichts aufzuzwingen.

Mit Resolutionen können wir nicht auf Kirchentagen und auch nicht in Parlamenten über die Lebensgefühle verfügen, die die Identität ausmachen. Identität ist aber auch die Frage, wie man für andere verständlich ist, ob und wie uns unsere Mitmenschen und Nachbarn verstehen können. Eine Frage also nach unserer Fähigkeit zum Zusammenleben mit anderen Völkern. Und es gibt solche Erwartungen der Nachbarn an uns.

Daher ist es schon wichtig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Was ist das eigentlich – deutsch?

Zunächst ist es ein naturgegebener Sachverhalt, deutsch zu sein. Es ist die Folge der Tatsache, hier geboren und aufgewachsen zu sein, die deutsche Sprache zu sprechen, sich hier zu Hause zu fühlen und damit ein Teil des eigenen Volkes zu sein. Ich bin ein Deutscher, wie ein Franzose ein Franzose, ein Russe ein Russe ist. Das ist weder ein Mangel noch ein Verdienst. Ich habe es mir nicht ausgesucht, genauso wenig wie die Zeit, in der ich lebe und die mich prägt: ausgehendes 20. Jahrhundert.

Es gibt eine starke Überlieferung, die mich als Deutschen durchdringt, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Die Überlieferung des Glaubens und der Kultur in Deutschland, der sozialen Entwicklung und der politischen Vergangenheit haben auch meine Existenz mitbestimmt. Damit muss ich mich auseinandersetzen, denn willenlos ausgeliefert bin ich ihr nicht.

Der Mensch kann den Überlieferungen eine neue Richtung geben, er kann seine Zeit beeinflussen. Dafür ist er frei, dafür ist er verantwortlich. Alle menschliche Geschichte ist Wandel, Veränderung. Geschichte selbst ist der wichtigste Beleg menschlicher Freiheit, den wir haben.

Mein Deutschsein ist also kein unentrinnbares Schicksal, sondern eine Aufgabe. Wir sind mitverantwortlich, unserem Deutschsein einen Inhalt zu geben, mit dem wir uns und unseren Nachbarn verständlich sind und in dem wir uns selbst zu Hause fühlen, unseren Nachbarn erträglich und willkommen sind und vor unseren Nachkommen bestehen können. Also: Was ist das eigentlich – deutsch?

Fragen wir danach, was es geographisch, politisch und kulturell umfasst, so fällt eine objektiv gültige Antwort schwer. Dies ist eine Folge unserer bewegten Geschichte, besonders im Hinblick auf unsere Grenzen. Wer in einem historischen Atlas blättert, findet beinahe auf jeder Seite ein anderes politisches Gebilde. Das liegt an unserer Lage in der Mitte des Kontinents. Niemand hat so viele Nachbarn wie wir. Sie alle haben ständig Einfluss auf die politische Struktur Zentraleuropas gesucht.

Die deutsche Geschichte hat noch nie den Deutschen allein gehört. Mehr als andere haben wir erfahren, dass Geschichte Wandel ist. Auf die Frage nach der politischen Gestalt der europäischen Mitte hat es bisher noch nie eine endgültige Antwort der Geschichte gegeben. Auch die heutige Gestalt dürfte nicht das letzte Wort der Geschichte sein.

Das erfüllt die Menschen in Europa mit ganz unterschiedlichen Gefühlen: mit Sorgen die einen, mit Hoffnung die anderen, mit gemischten Gefühlen die dritten. Ihnen allen gegenüber, den Besorgten, den Hoffenden, den Suchenden, ist unsere Verantwortung groß. Aber es hat nicht nur ständige historisch-politische Veränderungen des Deutschseins gegeben. Sondern es gibt auch gute Gründe für Schwankungen unseres Selbstbewusstseins, die unsere Identität beeinflussen und die Hand in Hand mit unserer Geschichte gehen. Mal wollte man gern Deutscher sein, sich vorzeigen – mal eher sich klein und unsichtbar machen. Um dies zu erklären, möchte ich gern von der Gegenwart aus noch einmal zurückblicken. Das wird die Gründe unseres heutigen Bewusstseins besser sichtbar machen und uns für den weiteren Weg rüsten. Aber nun werden vielleicht einige von Ihnen fragen: Warum denn noch einmal zurückblicken? Wir haben doch ganz andere Sorgen als die nach unserer deutschen Identität! Wir haben doch unsere großen Aufgaben in der Gegenwart, die zugleich auch zu den großen Themenbereichen dieses Kirchentages zählen:

- die weltlichen Probleme von heute;

- die hartnäckige Arbeitslosigkeit;

- die Zukunftssorgen junger Menschen im Hinblick auf Ausbildung und Beruf;

- die Sorge um den Frieden: es sind die Rüstungsausgaben, die steigen, aber nicht das Gefühl der Sicherheit;

- der Gegensatz zwischen Arm und Reich: künstlich geförderte Überproduktion von Nahrungsmitteln bei uns, riesige Hungersnöte in der Dritten Welt;

- der Schutz der Natur um ihrer selbst und um unserer Kinder willen: der Boden droht abzusterben, weil wir ihm zu rasch zu intensive Erträge abtrotzen;

- die Gefahr, dass wir nun die Zauberlehrlinge unserer wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten sind: beherrschen wir sie oder beherrschen sie uns? Wir ringen in der Genetik um eine Gen-Ethik. Reicht unsere moralische Kraft?

- Und schließlich: Hier bei uns leben wir in großer Freiheit. Sie zu genießen, uns ihre Rechte zu sichern, das können wir. Aber ihre Pflichten zu tragen, sie mit verantwortlichen Inhalten zu füllen, sie anderen zugänglich zu machen, die noch auf sie warten – sie mit anderen zu teilen – können wir das auch?

Das alles sind große Aufgaben unserer Zeit. Unsere Gedanken kreisen um sie. Sie gehören zu unserem Selbstverständnis, zu unserer Identität.

Und nun die Fragen: Sind das alles spezifisch deutsche Probleme? Sind sie entstanden und für uns vorhanden, weil wir Deutsche sind? Sind sie lösbar innerhalb unserer geistigen und politischen Landschaft in Deutschland?

Nein, ganz gewiss: Frieden und Umwelt, Hunger und Gerechtigkeit, Medien und Wissenschaft – das alles weist weit über unsere Grenzen hinaus. Diese Probleme begründen noch keine spezifisch deutsche Identität. Und weil sie so stark im Vordergrund des Bewusstseins vieler Menschen, vor allem junger Menschen, stehen, deshalb scheint es zunächst auch so, als ob viele unter uns, zumal viele der Jüngeren, an den Fragen der deutschen Identität nicht besonders interessiert sind. Wir wollen uns ja auch nichts einreden.

Aber ist das wirklich so? Betrachten wir das Problem zunächst von außen.

Ich war kürzlich in Holland und habe dort mit jungen Menschen diskutiert. Ich habe nach Arbeitslosen, Umwelt und Frieden gefragt. Sie aber wollten ganz anderes wissen. Die einen: Steht Ihr zur Vergangenheit wie wir, oder muss man Euch fürchten? Die anderen: Sie sehen unsere Teilung, aber ganz anders als wir. Für sie hatte sich mit der Teilung Europas in erster Linie nicht der Osten nach Westen verschoben; für sie ist mit dem Entstehen der Bundesrepublik Deutschland vielmehr der Westen – nämlich der Westen der Demokratien – weiter nach Osten gerückt.

Nicht alle Holländer, nicht alle Nachbarn denken so, aber man sieht keineswegs davon ab, dass wir Deutsche sind, wenn es um die Lösung einiger der oben genannten und noch nicht genannten Probleme geht.

Und darüber hinaus wird unser Lebensgefühl auch noch aus anderen Quellen gespeist, deren Ursprünge tiefer liegen und weiter zurückreichen. Wenn wir eins sein wollen mit uns selbst, und wenn wir mit unseren Nachbarn im Reinen sein wollen, dann müssen wir auch mit unserer Herkunft im Reinen sein. Nicht umsonst lautet das Thema heute Nachmittag in dieser Halle des Kirchentages "40 Jahre danach". So unbegründet sind die Fragen der Holländer nicht, die ich gehört habe.

In den vergangenen Monaten hat es eine tiefgehende, oft erregte, im Ergebnis heilsame Auseinandersetzung über diese Themen gegeben. Sie hat uns gezeigt, wie gegenwärtig Vergangenheit sein kann. Gewiss: So verschieden die persönlichen Schicksale damals gewesen waren, so unterschiedlich waren nun auch die Stimmen. Aber eines zeigte sich mit Klarheit: Wir müssen die Vergangenheit kennen, wir dürfen der Erinnerung gerade dort nicht ausweichen, wo sie schmerzt, wir brauchen ein gemeinsames Grundverständnis darüber.

Wenn ein Volk nicht weiß, wie es zu seiner Vergangenheit steht, dann kann es leicht in der Gegenwart stolpern, dann hat es ein Identitätsproblem.

Aber zunächst muss ich ganz rasch viel weiter zurückgehen als vierzig Jahre. Denn unsere Identität beginnt ja nicht 1945. Wir sind hier auf dem Evangelischen Kirchentag. Zu seiner Eröffnung hat Kardinal Höffner namens der Katholischen Kirche ernste und bewegende Worte über die Trennung der Christenheit gesagt.

Die Identität der Deutschen hat viel mit der Reformation zu tun. Lange bevor sie überhaupt eine politische Nation bilden konnten, waren die Deutschen schon religiös geteilt, schärfer als die meisten anderen Völker, fast zerrissen. Das hat sich auch im staatlichen Bereich tief ausgewirkt.

Deutschland ist das Land Martin Luthers, das Land der Reformation. Daraus haben wir Protestanten oft gefolgert, wir hätten ein besonders enges Verhältnis zum Begriff "deutsch". Man neigte zur Ausgrenzung der Katholiken. Die Reichsgründung unter Führung des protestantischen Preußen und Bismarcks Kulturkampf gegen die Katholische Kirche trugen dazu bei, unterschiedliche Formen eines deutschen Selbstbewusstseins bei Katholiken und Protestanten zu erzeugen.

Eigentlich ist es erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer vollen Integration gekommen, nicht zuletzt durch gemeinsame Schicksale in der Kirchenverfolgung unter dem Nationalsozialismus.

Heute hat für die Identität der Deutschen die Konfession keinen trennenden Charakter mehr.

Aber gerade weil dies zum Glück so ist und weil wir uns zahlenmäßig fast gleich stark auf die Konfessionen verteilen, sollten eben deshalb wir Deutsche umso stärkere Impulse für die Ökumene geben, sie uns stets zur Aufgabe machen.

Dies ist um unseres Glaubens und um des Zeugnisses der Christen in der Welt willen dringend nötig. Und es entspricht auch dem persönlichen Bedürfnis der meisten Gemeindemitglieder in den noch immer getrennten Kirchen.

Eine prägende Rolle für Selbstbewusstsein und Identität der Deutschen spielt die Kultur. Sie ist es, die – historisch gesprochen – in erster Linie ein deutsches Nationalgefühl entstehen ließ. Es ging nicht gleich um politische Ziele, sondern um geistige Eigenständigkeit. Im 18. Jahrhundert wollte man nicht französisch sein. Lessings Nationaltheater, Herders Nationalkultur gehören dazu.

Die großen Leistungen der klassischen Philosophie und Dichtung, allen voran Kant und Goethe, fanden weltweit Widerhall. Sie gaben den Deutschen das Bewusstsein, gemeinsam einer geachteten Kulturnation anzugehören. Man war gern deutsch. Freilich hat das Verhältnis von Kultur und Politik, von Geist und Macht uns Deutschen oft besonders zu schaffen gemacht.

Schon Schiller hatte geklagt:

"Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.

Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf."

Hölderlin nennt die Deutschen "tatenarm und gedankenvoll". Der Gedanke schweift zurück oder nach vorn, die Tat geschieht hier und heute. Nietzsche sagt: "Die Deutschen sind von vorgestern und von übermorgen – sie haben kein heute." Und Thomas Mann schließlich beschwört die deutsche Innerlichkeit, die Musikalität der Seele als schönste deutsche Eigenschaft. Aber er sieht bei uns einen Aufstand der Mystik gegen die Klarheit. Er nennt das Verhältnis des deutschen Gemütes zur Politik ein "Unverhältnis".

Das alles sind subjektive Urteile. Es geht mir nicht darum, etwas "typisch Deutsches" mit ihnen zu beweisen. Was ich im Zusammenhang mit der Kultur sagen möchte, ist dies: Immer wenn wir Deutsche Kultur ernst nahmen und unseren eigenen Weg der Kultur suchten, waren wir nicht nur anderen willkommen, sondern wir taten uns auch selbst den besten Dienst. So auch heute.

Das ist keine Frontstellung gegen das technische Zeitalter. Erst recht ist es kein unpolitischer Weg. Kultur ist Lebensweise. Kultur ist daher auch Politik. Kultur, verstanden als Lebensweise, ist vielleicht die glaubwürdigste Politik. Sie ist es, die unsere Identität stärkt, und zwar gerade auch dort, wo uns staatliche und gesellschaftliche Systemgrenzen in unserem Selbstverständnis belasten oder trennen.

Aber zurück zur staatlichen, politischen Entwicklung. Bei den Deutschen war ein erwachendes Nationalbewusstsein in der Zeit Napoleons zum Antrieb einer politischen Freiheitsbewegung geworden. Es wurde, nicht nur auf Lessings Theater-, sondern auch auf der politischen Bühne, um nationale Identität gekämpft. Nach den Niederlagen der frühdemokratischen Bewegungen der Paulskirche und nach dem gewaltsamen Ausscheiden Österreichs schuf Bismarck den Nationalstaat. Ihm schwebte Deutschland als Mittler und Brücke zwischen Ost und West vor.

Unterdessen nahm aber das nationale Selbstbewusstsein der europäischen Völker gefährliche Züge an. Man ging dazu über, sich anderen Nationen überlegen zu fühlen. Das eigene Bild wurde verherrlicht, das Bild der Nachbarn herabgesetzt. Übersteigertes Selbstgefühl verstärkte den Drang nach mehr Macht. Industrialisierung und Kolonialismus rückten vor.

In Deutschland wurden nach Bismarck die Dämme der Mäßigung gebrochen. Deutschland war nicht der Urheber, sondern nur der verspätete Teilhaber des Nationalismus, aber mit gefährlichem Nachholbedarf – "mit Volldampf voraus", wie es im wilhelminischen Zeitalter hieß. Indem die Deutschen nun auch noch in die Welt ausgriffen, führten sie eine Übermacht von Nachbarn zu einer großen Koalition gegen sich zusammen. Am Ende des Ersten Weltkrieges war Deutschland besiegt und in Versailles gedemütigt.

Danach gab es verantwortliche Friedensbemühungen in Frankreich und Deutschland, aber sie waren den Gegenkräften unterlegen. Nirgends war der Nationalismus überwunden. In Deutschland staute er sich erneut an. Auf dem Boden schwerer sozialer und wirtschaftlicher Not nahm er extreme Formen an.

Hitler erhob die deutsche Nation zum obersten aller Werte. Nur weil sie die deutsche war, sollte sie das Recht haben, die Welt zu beherrschen, als deutsch-germanische Rasse.

Konsequenz waren Gewalt und Krieg mit der halben Welt. In besetzten Gebieten wurden Juden und andere zusammengetrieben und ermordet. Der Holocaust nahm seinen Lauf. Völkermord, Vernichtung, Hass ohne Beispiel, Tod und unermessliches Leid rings um uns her und bei uns selbst. Deutschland wurde zerstört, besiegt, besetzt und geteilt. Das Wort "deutsch", was bedeutet es danach?

Hinter uns lag ein Abgrund an Gewalt und Schuld. Hinter uns lag eine furchtbare Anstrengung, die die Kräfte des Volkes aufgezehrt hatte. Man war befreit vom nationalsozialistischen Unrechtssystem. Aber für viele waren die Leiden nicht vorüber. Gewalt gegen unschuldige Menschen, Vertreibung aus jahrhundertealter Heimat folgten.

Es war schwer, in jenen Tagen ein Deutscher zu sein. Es gab kein Einverständnis der Deutschen mit sich selbst. Wie hätte es auch anders sein können nach allem, was geschehen war, nach allen enttäuschten Illusionen, allem Unrecht, aller Leichtfertigkeit des Unwissens und des Gewissens, aller mangelnden Wahrhaftigkeit?

Unsere Demokratie hat ihre Mängel, wie jede andere auch. Man mag manche solcher Mängel auf typisch deutsche Eigenschaften zurückführen. Aber das führt nicht sehr weit. Unsere besonderen Erfahrungen und Erinnerungen belasten uns nicht nur, sie vermitteln uns auch hilfreiche und schützende Einsichten. Wir haben die Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Unrechtsstaat wie kaum ein anderes Volk. Aber die deutsche Geschichte ist seit 1945 nicht zu Ende gegangen. Seit bald vier Jahrzehnten gibt es auf deutschem Boden eine freiheitliche Demokratie. Auch dies ist ein Teil unserer Geschichte – ein guter Teil. Wenn heute in der Welt von den Deutschen die Rede ist, werden Freiheit, soziale Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mitgedacht.

Im Erbe unserer Geschichte mit ihren hellen und dunklen Kapiteln ist dies ein besonders schwerer Abschnitt. Aber je besser wir ihn verstehen, je klarer wir die Erinnerung wahren, je unzweideutiger wir die Verantwortung für die Folgen tragen, desto weniger erwachsen aus der Vergangenheit Krisen unserer Identität, desto besser sind wir uns selbst und unseren Nachbarn verständlich.

Viele sagen: Immer diese ewigen Vergangenheitsfragen – wir haben nichts damit zu tun, wir wollen uns nicht damit belasten. In Wahrheit, glaube ich, ist es umgekehrt. Nicht hinzusehen, das bedeutet Belastung. Aber sich der Vergangenheit zu stellen, das entlastet uns, das erleichtert uns für unsere Gegenwartsaufgaben.

Besonders schwer lastet die Teilung auf uns. Vor allem die Menschen in der DDR tragen schwer an ihr. Sie leben in einem Staat und einem Bündnissystem des "real existierenden Sozialismus". Dies bestimmt ihre Erfahrung und ihr Leben existentiell.

Für uns in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies zunächst: Wir sollten mit Urteilen über das Leben, zumal das Leben von Christen, in der DDR vorsichtig sein und uns mit Ratschlägen aller Art zurückhalten. Für uns gibt es nichts besser zu wissen oder zu patronisieren.

Aber wir haben allen Grund, uns mit Kopf oder Herz den Menschen in der DDR zuzuwenden und verbunden zu fühlen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten des Besuchs und persönlichen Kontakts. Besonders empfinde ich Freude über Besuche aus der DDR. Herzlich grüße ich alle anwesenden Teilnehmer dieses Kirchentages, die aus der Deutschen Demokratischen Republik kommen. Erfurt und Dresden, die Mark Brandenburg und die Insel Rügen haben mehr mit uns selbst, mit unserer eigenen Identität zu tun als ein schöner Sandstrand am Mittelmeer. Waren Sie alle schon einmal in der DDR?

Aber auch für jeden, der sich hier bei uns öffentlich äußert, zählt es zur ständigen Aufgabe, sich stets darüber Rechenschaft abzulegen, ob er mit dem, was er sagt, vor den Deutschen in der DDR bestehen kann, und nicht, ob er mit seinen Worten hier im eigenen Kreis Beifall findet. Man hört drüben sehr genau hin, was bei uns alles gesprochen wird, manchmal genauer als bei uns selbst. Man registriert mit feinen Antennen, ob hier bei uns zum Beispiel ein Politiker sich bemüht, sich in die Lage eines DDR-Bürgers zu versetzen, von ihm aus zu denken, oder ob er die Deutschlandpolitik primär als Instrument zum Schlagabtausch mit dem hiesigen innenpolitischen Gegner missbraucht.

Es gibt Dinge, die drüben kaum auf Verständnis stoßen können, zum Beispiel wenn jemand hier einerseits ständig von Wiedervereinigung spricht, andererseits aber lautstark "Deutschland, Deutschland" ruft, um damit hinter der Mannschaft der Bundesrepublik zu stehen, wenn sie gegen die Kollegen aus der DDR antritt. Es ist ja nichts Böses dabei, die eigene Mannschaft anzufeuern. Aber zum einen darf man sich ruhig auch einmal über die wahrlich imponierenden Leistungen der Sportler aus der DDR freuen, und zum anderen sollte uns der Sport helfen, nicht hindern, unsere Lage als Deutsche zu erkennen und zu behalten.

Wir leben heute in zwei voneinander unabhängigen Staaten und in zwei unterschiedlichen Gesellschafts- und Bündnissystemen. Der Begriff "deutsch" ist wesentlich vom Schicksal der Teilung gezeichnet. Dennoch ist er der Teilung selbst nicht zum Opfer gefallen. Die Menschen in der DDR sind nicht nur Bürger ihres Staates, sondern sie sind zugleich auch Deutsche, Deutsche wie wir.

Mit dem Kriegsende kam die Aufteilung in Besatzungszonen, mit dem Ost-West-Konflikt die Spaltung Europas und die Teilung Deutschlands sowie seine Eingliederung in Machtblöcke unterschiedlicher Werte und Ziele. Deutschland geriet aus seiner historischen Mittelposition in eine doppelte Randlage. Die Grenze zwischen den beiden antagonistischen Blöcken deckt sich mit derjenigen zwischen den beiden deutschen Staaten. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Osten des Westens geworden, die DDR der Westen des Ostens. Die Teilung Deutschlands zu beenden setzt voraus, dass die Teilung Europas überwunden werden kann.

Trotz doppelter Randlage bleibt Deutschland aber von den Bedingungen seiner Lage in der Mitte Europas geprägt. Zwar ist diese Mitte geteilt, aber sie bleibt Mitte.

Für uns in der Bundesrepublik Deutschland wirkt sich dies in zwei Grunddaten aus.

Das erste ist unsere Westbindung. Wir gehören in den Kreis der westlichen Demokratien. Es ist die innere Wertordnung, es sind die Verfassungsgrundsätze, die uns mit denen zusammenbinden, welche denselben inneren Prinzipien verpflichtet sind. Diese Bindung an einen ständig verbesserungsbedürftigen, aber eben auch verbesserungsfähigen freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ist endgültig und unwiderruflich.

Das zweite Grunddatum ist unsere Zusammengehörigkeit mit den Deutschen in der DDR. Sie ist eine menschliche Lebenstatsache und eine politische Aufgabe. Die Mitte unseres Kontinents soll nicht Konflikte schüren. Sie soll blocküberwindende Kräfte der Friedensförderung stärken. In unserer menschlichen Verbundenheit und unserer geopolitischen Mittellage sollen wir uns dafür einsetzen, unseren näheren und ferneren Nachbarn im Osten trotz unterschiedlicher innerer Systeme näherzukommen und friedlich zusammenzuleben. Niemals war dies für die Deutschen in ihrer Geschichte wichtiger als im Zeichen der Teilung und im Atomzeitalter.

Diese doppelte Lage, die sich aus unserer eindeutigen Westbindung und unserem Willen zum Ausgleich mit dem Osten ergibt, wird oft als unbequem empfunden, von Deutschen ebenso wie von Nachbarn. Wahr ist, dass die Teilung den von ihr betroffenen Menschen schwere Lasten auferlegt und dass sie ihnen Menschenrechte vorenthält. Wahr ist auch, dass es eine deutsche Frage gibt, die unbequem ist.

Wenn einer eine Frage hat, möchte er in der Lage sein, sie zu beantworten und damit zu erledigen. Und wenn man sie nicht beantworten kann, dann möchte man am liebsten ihre Existenz leugnen. Das ist menschlich verständlich. Aber Fragen verschwinden nicht einfach deshalb vom Erdboden, bloß weil man sie nicht beantworten kann. Das beweist die Geschichte immer wieder.

In Berlin habe ich eine Formulierung gehört, die jeder verstehen kann: Die deutsche Frage ist so lange offen, wie das Brandenburger Tor zu ist.

Damit ist der Kern der Frage getroffen. Er betrifft die Freiheit der Menschen. Nirgends ist er deutlicher spürbar als im Zentrum des geteilten Berlin. Aber er betrifft nicht weniger alle Deutschen und alle Europäer.

Mit einer deutschen Frage zu leben, ist für die Deutschen nicht neu. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das politische Geschehen in Deutschland geradezu von der deutschen Frage beherrscht. Man rang um Einheit und um Freiheit im Sinne verfassungsmäßiger, freiheitlicher Bürgerrechte.

Beide Ziele lagen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Der Kampf um die freiheitliche Verfassung im Innern war nach dem Scheitern der Revolution von 1848 unterbrochen. Aber er war nicht aufgegeben. Schließlich jedoch erhielt damals die Einheit den Vorrang vor der Freiheit, welche in wichtigen Bereichen noch auf sich warten ließ.

Auch heute bewegt sich die deutsche Frage im Spannungsfeld von Einheit und Freiheit. Aber es ist anders als damals. Der Kern der Frage ist die Freiheit. Ein Fortschritt in Richtung auf Einheit um den Preis von Freiheit wäre ein Rückschritt.

Geteilt sind, ich sagte es schon, nicht nur Berlin und Deutschland. Geteilt ist die Gemeinschaft der Europäer. Die europäischen Nationen haben lange genug gegeneinander um Vormacht gekämpft. Obwohl sie dieselben historischen und kulturellen Wurzeln hatten, trat im Kampf um die Macht und in der Übersteigerung der Nationalismen das Bewusstsein der Gemeinschaft der europäischen Völker in den Hintergrund.

Die europäischen Weltkriege dieses Jahrhunderts waren selbstzerfleischende Bruderkriege. An ihrem Ende ist das Bewusstsein europäischer Zusammengehörigkeit wieder gewachsen. Wir gehören denselben historischen Entwicklungen an und gründen unser privates und staatliches Leben auf verwandte europäische Werte.

Das Thema der Einheit, das sich uns heute stellt, ist primär ein gesamteuropäisches. Seine Substanz sind nicht wie früher nationale Grenz- und Gebietsfragen. Es geht nicht darum, Grenzen zu verschieben, sondern Grenzen den trennenden Charakter für die Menschen zu nehmen.

Es geht um Menschenwürde, um Menschenrecht, um Glaubens- und Gewissensfreiheit, um Freiheit der Meinung und der Bewegung, Besinnung auf die Natur und für eine gerechte Entwicklung in der Dritten Welt.

In der Schlussakte von Helsinki, deren Unterschrift sich heuer zum zehnten Male jährt, die eine tiefe Wirkung getan hat und noch weiter tun wird, ging es schon um diese Themen. Einheit der Europäer heißt nicht staatliche Einheit oder Gleichheit der Systeme, sondern ein gemeinsamer Weg bei einem menschenwürdigen Fortschritt der Geschichte. Die deutsche Frage ist in diesem Sinn eine europäische Aufgabe.

Für ein solches Ziel in Europa mit friedlichen Mitteln zu wirken, ist vor allem Sache der Deutschen. Wären wir einander gleichgültig in den beiden deutschen Staaten, so wäre dies viel schwieriger.

Es ist gerade das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Trennung über Systemgrenzen hinweg, das uns stärker motiviert und besser befähigt.

Jeder denke dabei zuerst an das, was er selbst beitragen kann. Wir sind hier auf dem Evangelischen Kirchentag versammelt. Die Evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten gehen ihren Weg nicht nur in voller Unabhängigkeit voneinander, sondern auch in der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland. Wir tragen dafür in partnerschaftlicher Freiheit gemeinsam Mitverantwortung.

Viele von uns waren im Luther-Jahr drüben, und vielen ist dieses Erlebnis unvergesslich geworden. Wenn ich über meine Identität als Deutscher nachdenke, denke ich eben auch und stark an Wittenberg. Und ich wiederhole dies hier so, wie ich es beim Kirchentag auf dem Marktplatz von Wittenberg im Luther-Jahr 1983 gesagt habe. Wir waren dort und wir sind hier verbunden in dem, was den Kirchentag immer ausgemacht hat und weiterhin prägt und trägt:

- Jung und Alt, Laien und Pfarrer arbeiten aktiv zusammen, um ihren christlichen Glauben in der Welt zu bezeugen, und bemühen sich, Konsequenzen im eigenen Leben daraus zu ziehen.

- Um der Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses willen machen wir nicht Halt an Grenzen von Bekenntnissen, Gemeinden, Landeskirchen oder Ländern. Kirchentag und Ökumene sind eins.

- Wir leben hüben und drüben unter verschiedenen Bedingungen, gesellschaftlichen Systemen und persönlichen Spielräumen. Wir respektieren dies gegenseitig. Keiner will dem anderen in unangemessener Weise dreinreden. Aber wir sind, wenn auch in zwei Staaten, hüben und drüben Deutsche. Uns verbindet mehr als Sprache, Kultur und Haftung für die Geschichte. Denn auch die wesentlichen Ziele haben wir gemeinsam.

Dies fängt beim Einfachsten an: Wir atmen dieselbe Luft. Sie macht vor Grenzen nicht Halt. Sie reinzuhalten, ist unser gemeinsames Interesse. Der Friede, um den wir uns sorgen und bemühen, ist nicht teilbar zwischen Ost und West. Wenn wir Menschen um ihn ringen, sollten wir uns auch selbst nicht aufteilen in Träumer und Realisten.

Frieden zwischen Menschen und Völkern fällt uns nicht träumend in den Schoß. Er erfordert von uns mehr als das Überspielen von Gegensatz und Konflikt durch Sehnsucht und Gefühl. Er verlangt gute christliche Tugenden, nämlich Nüchternheit und Aufrichtigkeit.

Der Realist aber muss die Kraft haben, zu erkennen, dass es für die Sicherung des Friedens eben nicht genügt, wenn alles einfach so bleibt, wie es in Europa seit vierzig Jahren ist.

Ich lebe in der Bundesrepublik Deutschland und übe ein Amt im Rahmen unserer Verfassung aus, zu deren freiheitlichen Werten und Zielen ich mich voll bekenne und die ich nicht relativiere. Aber das schließt nicht aus, sondern ein, dass wir zum Beispiel in den Verhandlungen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht immer einer Seite das absolut Gute und Richtige, der anderen hingegen das absolut Böse und Falsche zurechnen dürften. Gut und Böse, Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit, Irrtum und Schuld gibt es überall.

Zum Frieden gehört es, sich gegenseitig nicht festzunageln auf konfrontative Äußerungen, die es auf jeder Seite gibt. Besser ist es, an positive Ansätze der anderen Seite anzuknüpfen, die auch auf beiden Seiten vorkommen. Es ist überhaupt kein Triumph, wieder einmal beweisen zu können, der Gegner sei und bleibe so verstockt wie stets, man habe es ja immer gewusst.

Hinter einer solchen Haltung verbirgt sich in Wahrheit nur das Bedürfnis, sich den Gegner stets als Gegner zu erhalten, damit man sich auch selbst nur ja nicht zu korrigieren braucht. Manchmal kann man diesen Gegner auch positiver und besser verstehen, als er es selbst schon kann und tut. Dann kann man sich auch selbst besser korrigieren.

Immer wieder diskutieren wir über die Abschreckungsstrategie. Wie sollte es auch anders sein? Wir können sie rational kaum nachvollziehen. Ein Schweigen der Waffen durch Waffen zu erzwingen, deren Einsatz alle vernichtet, den Gegner und uns selbst – wie soll der Mensch mit seinem Verstand und Gefühl solche Waffen begreifen?

Aber die Aufrichtigkeit gebietet es, zu erkennen, dass es in den letzten Jahrzehnten ungleich schwerer gewesen wäre, in unserer Region kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Das ist eine Aporie, ein Widerspruch, ein schwerer Konflikt, und zwar einer, aus dem niemand einen einfachen Ausweg weiß. Auch dies nicht zu verschweigen, sondern einzugestehen, gehört zur Verantwortung für den Frieden.

Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver hat gesagt: "Nirgendwo kann es je Frieden geben, wenn es nicht überall für alle Gerechtigkeit gibt."

Das nackte, individuelle Überleben hier in Zentraleuropa ist der Güter einziges und höchstes nicht. Wir in Europa müssen und wollen uns um die Kontrolle und vor allem die Verminderung von Rüstungen mit unserer ganzen Kraft einsetzen.

Aber wir sollten uns hüten vor einer sicherheitspolitischen Besessenheit zwischen Ost und West. Es geht nicht allein um Rüstung und Abrüstung, sondern um friedliche Beziehungen und um Zusammenarbeit auf allen Gebieten zwischen Ost und West.

Erst wenn wir Armut und Hunger in der Welt lindern helfen, wenn wir zur Gerechtigkeit überall beitragen, erst dann helfen wir wirklich, den Weg zum Frieden zu ebnen. Es geht um einen menschengerechten Frieden.

In Wittenberg auf dem Kirchentag hieß die Losung "Vertrauen wagen". Unsere Losung heißt "Die Erde ist des Herrn". In Wittenberg wie hier in Düsseldorf können wir sagen: "Vertrauen gemeinsam wagen". Es ist die uns gemeinsame Erde des einen Herrn.

"Die Deutschen und ihre Identität" – was heißt es nun eigentlich, deutsch?

Wir sind Menschen wie andere auch. Wir lieben wie sie unsere Heimat. Freilich hat unsere Lage, unsere Geschichte, unsere vielen Nachbarn und haben nicht zuletzt wir selbst helles Licht und dunkle Schatten erzeugt.

Immer wieder haben sie Wandel mit sich gebracht. Sie haben uns den Nachbarn und uns selbst oft schwer verständlich gemacht. Sie haben uns zumeist kein gleichmäßiges und selten ein vereintes Dasein beschert, sondern Trennungen auferlegt.

Wir müssen immer wieder lernen, sie zu ertragen, ohne gleichgültig zu werden. Wir müssen und wir können sie nutzen und fruchtbar machen, nicht nur für uns selbst, sondern für viele andere Menschen auch.

Der französische Dichter Paul Claudel schrieb nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über uns Deutsche: "Deutschland ist nicht dazu da, die Völker zu spalten, sondern um sie zu versammeln. Seine Rolle ist es, Übereinstimmung zu schaffen – all die unterschiedlichen Nationen, die es umgeben, spüren zu lassen, dass sie ohne einander nicht leben können."

Dass sie aufeinander angewiesen sind, das ist ein großer, ein zuversichtlicher Auftrag für uns. In der bewegten Geschichte und in der Trennung liegt auch eine Chance.

Der Weg in die Zukunft liegt nicht fest. Er ist dunkel und offen zugleich. Es liegt an uns, auf seine Richtung einzuwirken. Der Mensch ist frei. Es ist unsere Sache, dem Begriff "deutsch" einen Inhalt zu geben, mit dem wir selbst und mit dem die Welt gern und in Frieden leben können.

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