DDR-FLÜCHTLINGE - Wie die Motten                                                                                                       30.12.1979, 13.00 Uhr

DER SPIEGEL 53/1979

 

 

Viele DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik kommen, scheitern. Um jeden Preis wollte der Dachdecker Walter Bruchlahm* (Name von der Redaktion geändert) das Paradies der Werktätigen verlassen. Zwei Fluchtversuche mißglückten, und jedesmal sperrten ihn die DDR-Behörden ins Gefängnis -- bis er, von der Bundesregierung freigekauft, am 11. Juli 1977 in den Westen kam. Jetzt sitzt er, seit gut einem Jahr, im Frankfurter Obdachlosenasyl Schwanheimer Straße.

Dort trifft er viele Landsleute: Fast jeder sechste unter den Pennern und Landstreichern stammt nach Angaben des hessischen Sozialministeriums aus der DDR; die Forschungsgruppe »Nichtseßhafte« der Universität Bielefeld machte in einer Repräsentativumfrage gar 29 Prozent Vertriebene und Flüchtlinge unter den Obdachlosen in der Bundesrepublik aus.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam Hans Kock, Chef der Jugendgilde des Hamburger Christlichen Vereins Junger Männer: Von 184 DDR-Aussiedlern, die der Hamburger CVJM in knapp einem Jahr betreute, konnten sich 42 -- oder 23 Prozent -- nicht in die bundesdeutsche Gesellschaft eingliedern. Und wer im Westen Fuß faßt, hat zunächst Enttäuschungen, Demütigungen und soziale Isolierung durchzustehen. Die Ost-Berliner Ärztin Ulrike Wetz machte ihre erste Bekanntschaft mit der bundesdeutschen Wirklichkeit im Notaufnahmelager Gießen: Dort wurde sie von Verfassungsschützern verhört und, mit einer Nummer in den Händen von vorn, Profil links, Profil rechts photographiert. Die Medizinerin: »So, dachte ich, werden im Westen nur Verbrecher behandelt.«

Der Kaufmann Hans-Udo Pelzer, der seit 1965 in West-Berlin lebt, litt in den ersten Jahren so sehr unter dem »Fehlen jeglicher persönlicher Bindungen«, daß er beinahe wieder in die DDR zurückgekehrt wäre. Pelzer: »In dieser Zeit bist du kein richtiger Bundesbürger, und DDR-Bürger bist du auch nicht mehr.«

Ein großer Teil der Zuwanderer -- 1978 kamen über 12 000 -- schafft es nicht, in der ungewohnten Umgebung zurechtzukommen. Folge: Sozialarbeiter in Behörden und freien Wohlfahrtsverbänden registrieren überproportional viele ehemalige DDR-Bürger unter ihrer Klientel: Obdachlose, Alkoholiker, psychisch Kranke, Kriminelle.

Symptomatisch für das Schicksal dieser Gruppe ist der Weg des Walter Bruchlahm, der eine andere Gesellschaft vorfand, als ihm Werbefernsehen und West-Verwandte erzählten.

Der 23jährige Dachdecker zog nach Lübeck, wo er ein Zimmer bei seinem Großvater und eine Stelle bei einer Baufirma fand. Nach einigen Wochen zerstritten sich Großvater und Enkel; Bruchlahm verließ die Wohnung und kündigte, aus Arger über seinen Meister, auch gleich seinen Posten.

Auf dem Arbeitsamt machte ihm der Sachbearbeiter Vorwürfe, daß er leichtfertig seinen Job aufgegeben habe, und sperrte, wie es das Gesetz befiehlt, für vier Wochen die Arbeitslosenunterstützung. Bruchlahm: »Da hatte ick genug von dem Palaver, da bin ick weg von Lübeck.«

Der im Umgang mit West-Behörden hilflose Dachdecker scheute sich daraufhin, noch einmal ein Arbeitsamt zu betreten. »Ick hatte richtig Angst«, erinnert er sich, »uff die Ämter zu gehen.«

Er hielt sich mit Sozialunterstützung über Wasser, jobbte gelegentlich auf Baustellen, nächtigte in Absteigen und Asylen. Seine Stationen: Bremen, Hamburg, Köln, Stuttgart, Kassel, Frankfurt. Nach zweijähriger Odyssee durch bundesdeutsche Obdachlosenheime versucht Bruchlahm derzeit, mit Hilfe von Sozialarbeitern aus dem Milieu zu kommen. Gewohnt, daß sich der Staat um alles kümmert, ihnen Arbeitsstelle wie Wohnung zuweist, gelingt es den wenigsten Übersiedlern aus der Ost-Republik, sich ohne Beistand in der westdeutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Genügt in der DDR meist nur der »Ausweis für Arbeit- und Sozialversicherung«, so werden sie hier vom Arbeitsamt zum Sozialamt geschickt, wo sie die Lohnsteuerkarte erhalten, und wenn sie beim Arzt sind, erfahren sie, daß sie sich erst einmal einen Krankenschein besorgen müssen.

»Ich bin rund 30 Stellen angelaufen«, klagt Marion Siede aus Potsdam; aber nur »zufällig« erfuhr sie von Freunden, daß Übersiedler auch ein Anrecht auf ein günstiges Einrichtungsdarlehen haben. Mancher hat auf den Sozialämtern Ärger bekommen: »Die tun so«, berichtet ein Maschinenbauer über seine Auseinandersetzung mit Bediensteten, »als ob es ihr Geld ist, das sie zu verteilen haben.«

Helfer, die den Zuwanderern mit Rat und Tat zur Seite stehen, gibt es nur wenige. Erst seit einigen Monaten beispielsweise existiert der Berliner »Selbsthilfeverein ehemaliger DDR-Bürger«, dessen freiwillige Mitarbeiter ihre eigenen Erfahrungen an Neuankömmlinge weiterreichen und derzeit etwa 100 ehemalige Ostdeutsche betreuen. Ihr Ziel ist nicht nur, die vom Westen Geschockten für Behördengänge und den Umgang mit Bürokraten fit zu machen, sondern auch private Kontakte zu vermitteln.

Spätestens bei der Suche nach Arbeit und Wohnung wird den meisten bewußt, daß die Bundesbürger sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Anders als bei Prominenten wie Rudolf Bahro, Niko Hübner oder den Ballonfahrern von Naila bleibt die erwartete Vorzugsbehandlung aus.

Bevor etwa ein freigekaufter Häftling eine Entschädigung nach dem Häftlingshilfegesetz (Mindestsatz: 720 Mark) erhält, muß er erst einmal nachweisen, daß er in dem SED-Staat ausschließlich aus politischen Gründen einsaß. Da die DDR-Justiz jedoch nur selten Prozeßunterlagen aushändigt, gerät dies oft zu einem schwierigen Unterfangen, zumal die West-Juristen nur nach Aktenlage, ohne mündliche Verhandlung, entscheiden.

Bleibt der Verdacht, daß der Übersiedler nicht nur wegen politischer Delikte bestraft wurde, kann das Ost-Urteil sogar ins westliche Strafregister eingetragen werden. Krasses Beispiel: Der Ost-Berliner Horst Zillmann fand auf der Flucht noch auf DDR-Gebiet eine Geldbörse mit 21 Mark und Ausweisen. In seiner Aufregung nahm er Geld und Papiere an sich.

Nach seiner Festnahme an der Grenze verurteilte ihn das Ost-Berliner Stadtbezirksgericht Prenzlauer Berg wegen »vorbereiteten oder versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts«, »der staatsfeindlichen Hetze« und wegen »Diebstahls persönlichen oder privaten «Eigentums» zu drei Jahren und vier Monaten Haft.

Der Berliner Oberstaatsanwalt Ulrich Feißel annullierte alle östlichen Richtersprüche -- bis auf den Diebstahl. Das Verhalten Zillmanns sei, so befand er, auch nach »rechtsstaatlichen Gesichtspunkten« zu beanstanden. Feißel hielt deswegen eine Freiheitsstrafe von vier Monaten für angemessen, die das Kammergericht -- aus formaijuristischen Gründen -- allerdings nicht anerkannte.

Wenn auch geringe Strafen bei Anträgen auf Haftentschädigung selten eine Rolle spielen und, so ein Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales, »wir bis hart an die Grenze der Legalität gehen«, um jeden DDR-Häftling finanziell zu entschädigen, fühlen sich die meisten nicht mit der Herzlichkeit empfangen, die sie erwartet hatten.

Die Desillusionierung beginnt bereits im Aufnahmelager, wo sie erst einmal gründlich vom Verfassungsschutz vernommen werden, im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde gar nacheinander von amerikanischen, französischen und britischen Spezialisten.

Gleichwohl wird mancher, wenn gerade mal wieder ein Agentenring aufgeflogen ist, als Sicherheitsrisiko betrachtet. Eben aus dem Lager herausgekommen, berichtete ein DDR-Flüchtling an seinem ersten Abend in einer Lübecker Kneipe über die DDR. In der Nacht rückte dann die Polizei an, um ihn »erkennungsdienstlich zu behandeln« -- übervorsichtige Kneipengäste hatten Meldung erstattet.

Und während der Guillaume-Affäre stellte die Nürnberger  Bundesanstalt für Arbeit fest, daß vor allem hochqualifizierte Ostdeutsche schwerer an einen Job kamen: Firmen fürchteten, einen Perspektivagenten einzustellen.

Freilich läßt in vielen Fällen weder Mißtrauen noch Gleichgültigkeit ihrer neuen Umwelt die Übersiedler scheitern, sondern ein spezifisch ostdeutsches Charakteristikum: der Mangel an Eigeninitiative, der es ihnen unmöglich macht, sich der westdeutschen Gesellschaft anzupassen.

Viele sind nicht fähig, so beobachtete Roland Schäfer, Sozialarbeiter im Frankfurter Verein für soziale Heimstätten, sich mit den »Konflikten des alltäglichen Lebens angemessen auseinanderzusetzen«. Sie kamen mit einem »völlig schiefen Bild der Realität« (Schäfer). Kein Gerhard Löwenthal taucht auf, um sie im »ZDF-Magazin« als Freiheitskämpfer abzufeiern« ihre Unterkunft hat wenig Ähnlichkeit mit dem, was Fernsehfilme als bundesdeutsche Wohnungen zeigen, und der Gebraucht-Mercedes -- was aufschneiderische West-Besucher gern verschweigen -- muß erst mühsam erarbeitet werden.

Derart ernüchtert, reagieren zahlreiche Deutsche aus dem Osten hilflos. Die einen verfallen in trotzige Resignation, andere geraten in ihrem aufgestauten Konsumdrang an Kredithaie. Da gibt es den Übersiedler, der nicht wagt, in ein Geschäft zu gehen, »weil ich da doch nur übers Ohr gehauen werde«, da verpraßt einer sein Übergangsgeld mit Taxifahrten, weil »ich mal den Westen kennenlernen will«.

Nicht zuletzt scheitern auch deshalb so viele, weil sie schon in der DDR gescheitert waren. Roland Schäfer: »Viele, die hier Schwierigkeiten haben, hatten auch welche in der DDR, waren kriminell oder Alkoholiker.«

Schwierigkeiten in der Bundesrepublik haben vor allem die Ex-Häftlinge, weiß der Berliner Nervenarzt und Psychiater Rudolf Hampel, selbst ehemaliger DDR-Bürger: Unter den früheren Sträflingen machte er Symptome aus wie »Kontaktstörungen oder die Unfähigkeit, initiativ zu werden«. Aber auch unter denen, die nicht im Gefängnis saßen, stellen, wie ein Betreuer registrierte, die Labilen einen hohen Anteil -- »Leute. die vom glitzernden Westen angezogen werden wie die Motten vom Licht«. Diese Leute, so Sozialarbeiter, kommen in jüngster Zeit immer zahlreicher.

Tatsächlich ist die DDR, so beklagen sich die West-Behörden, in den  letzten Jahren dazu übergegangen, nicht nur wegen versuchter Republikflucht oder staatsfeindlicher Hetze Verurteilte gegen Bonner Devisen in den Westen zu entlassen, sondern auch jene, mit denen sie nichts anzufangen weiß: Kriminelle, Querulanten, Alkoholiker.

Henning Mührer, beim Hamburger Senat mit der Unterstützung ehemaliger ostdeutscher Gefangener betraut, schätzt die Quote der früheren Kriminellen und Asozialen, die aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen werden, auf mittlerweile 50 Prozent. Mührer: »Die Chance, daß die im Westen zurechtkommen, ist eins zu zehn.«

Sein Frankfurter Kollege Schäfer hält denn auch die Freikaufpraxis der Bundesregierung für eine »deutschdeutsche Schweinerei«: Bonn benutze die Zahl der Freigekauften als »Alibi für den Unrechtsstaat« DDR, in Wahrheit aber erhöhe sich mit dem »innerdeutschen Import/Export von Sozialgefährdeten« nur die Zahl der Nichtseßhaften in der Bundesrepublik.

Die Alternative enthüllte ein interner Bericht des Hamburger CVJM: »Die Zahl der freiwillig aus dem Leben scheidenden DDR-Zuwanderer hat in letzter Zeit zugenommen.«

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